Der Verfassungsgerichtshof wird ignoriert

In den vergangen Tagen sind mehrere Entscheidungen (Erkenntnisse) des Verfassungsgerichtshofes ergangen, welche als durchaus bemerkenswert im Rahmen und für die rechtliche Aufarbeitung der sogenannten Corona-Krise angesehen werden können.

Folgende Erkenntnisse sind wesentlich:

Zitat: (G 271/2020-16, V 463-467/2020-16, Seite 52, Maskenerkenntnis)

„Die Entscheidungsgrundlagen, die im Verordnungsakt zur COVID-19-Lockerungs-verordnung in der Stammfassung BGBl. II 197/2020 dokumentiert sind, beschränken sich auf eine Absichtserklärung, die bloß im Groben umrissene Verordnung erlassen zu wollen.
Es ist aus dem Verordnungsakt nicht ersichtlich, welche Umstände im Hinblick auf welche möglichen Entwicklungen von COVID-19 den Verordnungsgeber bei seiner Entscheidung zu einer (Beibehaltung der) Verpflichtung zum Tragen einer den Mund-und
Nasenbereich abdeckenden mechanischen Schutzvorrichtung beim Betreten öffentlicher Orte in geschlossenen Räumen geleitet haben.

2.9. § 1 Abs. 2 COVID-19-Lockerungsverordnung in der Stammfassung BGBl. II 197/2020verstößtsomitgegen § 2COVID-19-Maßnahmengesetz, weil es der Verordnungsgeber gänzlich unterlassen hat, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung
bestimmt haben, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar ist, warum der Verordnungsgeber die mit dieser Regelung getroffenen Maßnahmen für erforderlich gehalten hat. Bei diesem Ergebnis erübrigt sich eine weitere Prüfung, ob die
angefochtene Bestimmung auch aus anderen Gründen gesetz- oder verfassungswidrig ist.“

Zitat: (G 272/2020-11, Seiten 22 und 23, Gastgewerbeerkenntnis, Betretungsverbot)

„4.5. Entscheidungsgrundlagen, Unterlagen oder Hinweise, die die Umstände der zu erlassenden Regelung betreffen, fehlen im Verordnungsakt gänzlich. Es ist aus den vorgelegten Verordnungsakten nicht ersichtlich, welche Umstände den
Verordnungsgeber -insbesondere bei seiner Entscheidung hinsichtlich der in Abs. 4 und 5 genannten Voraussetzungen für das Betreten von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe -geleitet haben; dabei wiegt die Tatsache,
dass diese Regelungen intensiv in die Grundrechtssphäre sowohl der Gewerbetreibenden als auch der Besucher eingreifen, schwer.

4. 6. § 6 Abs. 1 und 4 COVID-19-LV,BGBl. II 197/2020, idF BGBl. II 207/2020 und § 6 Abs. 5 COVID-19-LV, BGBl. II 197/2020, idF BGBl. II 231/2020 verstoßen sohin gegen § 1 COVID-19-Maßnahmengesetz, weil es der Verordnungsgeber
gänzlich unterlassen hat, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar ist, warum der Verordnungsgeber die mit diesen Regelungen getroffenen
Maßnahmen für erforderlich gehalten hat.“

Zitat: (V 428/2020-10, Seiten 20 und 21, Veranstaltungserkenntnis)

„Des Weiteren finden sich Entwürfe der Verordnung vom 28. April 2020 und vom 30. April 2020 sowie die kundgemachte Verordnung im Akt. Darüber hinaus liegen diesem Verordnungsakt keine weiteren, im Hinblick auf die
angeführten gesetzlichen Grundlagen der Verordnung relevante Ausführungen oder Unterlagen ein.

Entscheidungsgrundlagen, Unterlagen oder Hinweise, die die Umstände der Regelung des § 10 COVID-19-LV betreffen, fehlen im Verordnungsakt gänzlich. Es ist aus dem vorgelegten Verordnungsakt nicht ersichtlich,
welche Umstände den Verordnungsgeber im Hinblick auf § 10 der Verordnung geleitet haben; dabei wiegt die Tatsache, dass diese Regelung intensiv in die Grundrechtssphäre sowohl der Veranstalter als auch der
Besucher eingreift, schwer. “

Unmittelbar darauf ist die sogenannte COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung – COVID-19-SchuMaV, BGBl. II Nr. 463/2020 ergangen, als ob es die genannten und zitierten Entscheidungen des VfGH überhaupt nicht gibt.

Zusammengefaßt hält der Verfassungsgerichtshof in seiner Begründung fest, daß die im Frühjahr 2020 ergangen Verordnungen ohne irgendeine Grundlage (arg. : gänzlich unterlassen) ergangen sind. Es kann daher von glatter Willkür gesprochen werden.

Auch wurde die Bevölkerung schlichtweg hintergangen und im Glauben gelassen, es handelte sich dabei um ein wissenschaftlich fundiertes Vorgehen.

Man darf in einem solchen Fall annehmen, daß bei Grundrechtseinschränkungen dieses Ausmaßes die diesen Verordnungen zugrunde liegenden Verordnungsakten im jeweils zuständigen Bundesministerium (BMSGPK)
prall gefüllt sind mit wissenschaftlicher Expertise und von Gutachten aus allem möglichen, in diesem Zusammenhang stehenden wissenschaftlichen Fachrichtungen. Nichts dergleichen war und ist wahrscheinlich der Fall.

Vor allem ist davon auszugehen, daß sich an dieser Willkürpraxis nichts geändert hat. Bei diesen Entscheidungen handelt es sich, wie gesagt aus, um Versionen der sogenannten Lockerungsverordnung aus dem Frühjahr 2020. Daß die
darauf folgenden Versionen der Lockerungsverordnung von wissenschaftlicher Expertise begleitet und getragen worden sind, kann praktisch ausgeschlossen werden. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse hätten dies denn auch sein sollen?

Es darf daher auch davon ausgegangen werden, daß die Verordnungsakten der darauf folgenden Versionen der Lockerungsverordnung ebenfalls leer und ohne relevanten Inhalt sind und diese die Verordnungen ebenfalls nicht stützen.

Rechtlich von Bedeutung ist dies deshalb, da der Gesetz- und Verordnungsgeber an die Entscheidungen und die Rechtsansicht des Verfassungsgerichtshofes auch für die Zukunft gebunden ist. Er kann sich nicht darauf berufen
zu sagen oder zu argumentieren, daß diese Entscheidung nur für diesen Fall gilt oder nur für die Vergangenheit.

Zitat: Art 139 Abs. 5 B-VG:

(5) Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes, mit dem eine Verordnung als gesetzwidrig aufgehoben wird, verpflichtet die zuständige oberste Behörde des Bundes oder des Landes zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung.
Dies gilt sinngemäß für den Fall eines Ausspruches gemäß Abs. 4. Die Aufhebung tritt mit Ablauf des Tages der Kundmachung in Kraft, wenn nicht der Verfassungsgerichtshof für das Außerkrafttreten eine Frist bestimmt, die sechs
Monate, wenn aber gesetzliche Vorkehrungen erforderlich sind, 18 Monate nicht überschreiten darf.

Der jeweils zuständige Bundesminister wird somit verpflichtet, die Aufhebung der jeweiligen Verordnung im Bundesgesetzblatt kundzumachen und sich selbstverständlich auch in Zukunft danach zu richten, da die Entscheidung durch die
Kundmachung – wie ein Gesetz oder auch eine Verordnung – dadurch zum Rechtsbestand des Staates wird. Jedes kundgemachte Gesetz und jede kundgemachte Verordnung gilt auch nicht nur für den Augenblick oder für die Vergangenheit,
sondern hat natürlich den Sinn, die Zukunft des Gemeinwesens zu gestalten und das Leben der Menschen zu regeln. Da sich Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes naturgemäß auf allgemeine abstrakte Regeln (Gesetze und Verordnungen) beziehen, haben diese daher die gleiche Wirkung.

Es geht daher nicht an, daß ein Bundesminister nach der Kundmachung dieser Entscheidung in seinem rechtswidrigen Treiben fortfährt und weiter Verordnungen mit rechtswidrigem Inhalt erläßt oder überhaupt Verordnungen ohne irgendeiner Grundlage
im Verordnungsakt kundmacht. Die von ihm durchzuführende Kundmachung der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes gilt natürlich und auch insbesondere für ihn.

Es ist daher dringend anzuraten, bei jedem behördlichen oder gerichtlichen Verfahren den jeweiligen Verordnungsakt beischaffen zu lassen, um die Grundlagen zu ermitteln aufgrund derer eine bestimmte Verordnung bzw. Version der Lockerungsverodnung
und jetzt der COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung – COVID-19-SchuMaV, BGBl. II Nr. 463/2020, ergangen ist. Dies muß in dem jeweiligen Verfahren auch beantragt werden.

Es davon auszugehen, daß die wissenschaftlichen Grundlagen hierfür ebenfalls nicht vorhanden sind.

Bei einer Gesamtbetrachtung stellt sich somit heraus, daß grundlegende, von der Bundesverfassung vorgesehene Mechanismen im Zusammenwirken der Höchstgerichte und der obersten politischen Organe der Exekutive nicht mehr funktionieren.

Zurückzuführen ist dies auf einen völlig ineffektiven Verfassungsgerichtshof, welcher bei der Umsetzung seiner Entscheidungen auf die Mitwirkung anderer angewiesen und aus eigener Macht nichts umzusetzen in der Lage ist. Eine eigene Exekutivgewalt
ist dem Verfassungsgerichtshof nicht gegeben. Die Kundmachung der Entscheidung im Bundesgesetzblatt reicht offensichtlich nicht.

Eine Reform ist hier somit mehr als überfällig. (Siehe Eilantrag beim VfGH)

Es macht beispielsweise politisch durchaus Sinn, ein rechtswidriges bzw. verfassungswidriges Verhalten von Seiten eines Bundesministers oder auch der gesamten Bundesregierung bei Verordnungsermächtigungen, wie sie das COVID-19
Maßnahmengesetz (StF: BGBl. I Nr. 12/2020, idF BGBl. I Nr. 104/2020) bietet, weiter an den Tag zu legen bis wieder ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes dieses beanstandet und die jeweiligen Rechtsakte aufhebt, um
eine politische Agenda durch- bzw. umzusetzen. Dieses Spiel kann solange fortgesetzt werden, solange eine solche gesetzliche Ermächtigung vom Parlament gestützt wird. Hierzu reicht eine einfache Mehrheit.

Es braucht sich also im Endeffekt im Parlament nur eine einfache Mehrheit zu finden, welche die Exekutive ermächtigt, die gesamte Verfassung, einschließlich der Grundrechtsordnung aus den Angeln zu heben und der Verfassungsgerichtshof
ist zum Zuschauen verurteilt. Parallelen aus der Vergangenheit dürfen hier durchaus gezogen werden.

Der Verfassungsgerichtshof kann ein Erkenntnis nach dem anderen erlassen, es wird kaum von Bedeutung sein, wenn der politische Wille fehlt, dieses auch zu beachten.

Daß wir hier ein massives verfassungsrechtliches Problem haben, liegt auf der Hand. Die politischen Möglichkeiten sind praktisch unendlich und der Schaden für die Gesellschaft enorm, wie man dieser Tage unschwer beobachten kann.

Es ist somit jeder Staatsbürger angehalten, den jeweiligen Verordnungsakt selbst in Augenschein zu nehmen, damit man überprüfen kann, was hier wirkliche Grundlage für die Verordnung war. Nur so ist es möglich, die Öffentlichkeit
schnell und effektiv zu informieren und in der Folge auch zu mobilisieren. Jedes behördliche oder gerichtliche Verfahren bietet hierzu eine Möglichkeit. Diese Möglichkeiten müssen nur genutzt werden.

Wien, am 04. 11. 2020
RA Dr. Roman Schiessler